Lüge nicht heute, damit ich dir morgen, weil die Lügen kurze Beine haben, glaube. Doch ich werde manchmal lügen, weil die Lügen immer wieder eine Notwendigkeit sind. Mit ihrer Hilfe setzt sich die Leichtigkeit im Leben fort und das Leben lässt sich ein bisschen zum Schöneren wenden.
Ich lüge zum Beispiel, wenn ich meine Augen schwarz bemale und mein Gesicht mit Farben beschmiere, wenn ich die Kleidung kaufe die mein gewünschtes körperliches Dasein zeigt und die andere, die mir nicht vorteilhaft scheint, wegwerfe.
Ich lüge auch, wenn ich ein Wort statt eines anderen bewusst wähle und wenn ich meine Ausdrücke schöner wirken lasse.
Meine Lügen sind harmlos und beschädigen nicht meine Nachbarn, nicht meine Freunde und auch nicht die Menschen, die ich liebe.
Die Lügen sind auch unterschiedlich, sie variieren untereinander. Manche, wie der Aprilscherz, sind beliebt und lassen gerne auf sich warten, manche anderen laden uns ein uns zu wünschen, an sie glauben zu können, und zwischen diesen und den anderen Arten von Lügen schwimmen unsere Sehnsüchte, Haltungen, Leidenschaften und unsere gebildeten und geheimnisvollen Ideen und Interessen.
Was ist eine Lüge und wann ist sie keine Straftat?
Die Lüge braucht das Wort.
Ehrlichkeit braucht das Wort, bekräftigt durch die Tat.
Die Tat kann ohne die Unterstützung des Wortes nicht geschätzt werden, weil sie oft verborgen bleibt und durch Details nach Erklärung verlangt.
Die Lüge pflanzt bei dem Empfänger Vorstellungen, denen das Reale, Gesagte oder manchmal das Gefühlte nicht entsprechen kann, aber auf Grund ihrer Notwendigkeit überlebt sie die Zeiten auch zwischen verschiedenen Zivilisationen und Epochen der menschlichen Geschichte.
Wenn die Lüge nicht so notwendig wäre, dann hätten die Philosophen sie sich nicht zu Eigen gemacht und die Historiker sich nicht großzügig ihrer bedient, trotzdem sie das Wort missachtet und es für eigene Interessen nutzt.

Zuletzt bleibt die Frage:
Wenn uns die Möglichkeit gegeben würde, etwas nach dem Gesetz Verbotenes zu bestrafen; was sollen wir dann verbieten, um zu bestrafen:
Den Lügner...?
Die Lüge...?
Oder das Werkzeug der Lügen: das Wort?

Aus:
"Sie wollte nur leben" Beatrice Kassis
©beatrice Kassis